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11.03.2004: 
Über die Charaktereigenschaften (2)

Im muslimischen Verständnis sind innerer Zustand und äußeres Verhalten miteinander verbunden - Von Abdurrahman Reidegeld, Köln

Al-Ghazâli stellt fest, dass den meisten Menschen nicht die Wirklichkeit der Akhlâq bekannt ist, sondern lediglich einige Früchte, will sagen: Ergebnisse der Akhlâq-Handlungen. Hieraus entwickelt er eine Argumentation, in welcher er über einen Körper-Seelen-Vergleich zum Wesen der Akhlâq vordringt: „Wisse, dass die Menschen zwar über die Wirklichkeit des schönen Khuluq sprechen und darüber, was darunter zu verstehen sei, doch dringen sie nicht zu dessen Wirklichkeit vor; vielmehr begreifen sie manche Ergebnisse, die von diesem herrühren, wobei sie jedoch wiederum nicht sämtliche Ergebnisse dieses schönen Khuluq - im Detail und in erschöpfender Weise - erfassen [...]

So sagen wir also: ‘Khuluq’ und ‘Khalq’ sind zwei Begrifflichkeiten, die gemeinsam verwendet werden, etwa wie man sagt: ‘X ist von schöner Gestalt (Khalq) und hat schöne Charaktereigenschaft (Khuluq)’ - womit man meint: sein Inneres (Bâtin) und sein Äußeres (Zâhir) ist schön -, und so bezeichnet man mit ‘Khalq’ die äußerlich erkennbare Form (Sûra Zâhira) des Menschen, wohingegen man mit Khulq die innere, verborgene Gestalt des Menschen (Hai’a Bâtina) bezeichnet. Dies ist so, weil der Mensch aus einem Körper besteht, welcher mit dem Blick erkennbar ist, und aus Geist und Seele, welche durch nachdenkende Erkenntniskraft begreiflich werden. Ein jeder der beiden Grundbereiche verfügt über eine ihm eigene Form und Gestalt: entweder hässlich oder schön. Die Seele jedoch, welche mit der nachdenkenden Erkenntniskraft begreiflich ist, ist gewaltiger an Maß als der mit dem bloßen Blick begreifbare Körper. [...] So ist also ‘Khuluq’ eine Begrifflichkeit, welche eine klar bestimmbare Gestalt (Hai’a) innerhalb der Seele bezeichnet, von welcher aus die Handlungen hervortreten - in aller Leichtigkeit, ohne dass dabei ein Nachdenken oder Vorbereiten nötig wäre. Wenn also diese Gestalt so beschaffen ist, dass aus ihr die seitens der Schari’a und des Verstandes lobenswerten Handlungen hervorkommen, so wird diese Gestalt ‘schöner Khuluq’ genannt, und falls die Form so beschaffen ist, dass hässliche Handlungen daraus hervorkommen, so nennt man die Form ‘übler Khuluq’.“

Den hier von Al-Ghazâli verwendeten Begriffe „Form“ (Sûra) beziehungsweise Gestalt (Hai’a) kommt eine besondere Schlüsselrolle zu. „Sûra“ kann jede mit den Sinnen erfassbare Form sein, speziell das zwei- oder dreidimensionale Bild oder Bildnis, wohingegen „Hai’a“ eine bestimmte Grundform bezeichnet, die man aber nicht exakt mit einem Maß wie Länge, Gewicht usw. festmachen kann. So wird von „Sûra“ gesprochen, wenn man ein konkretes Bild von Menschen, Tieren, Landschaft und dergleichen meint, aber von „Hai’a“, wenn man ausdrücken will, dass ein Mensch allgemein von schlanker oder dicker Statur sei. Auch bei den Himmelskörpern und den Himmelssphären spricht man ja von Hai’a-Dingen, weil man hier oft ein exaktes Maß weder angeben kann noch braucht.

In unserem Zusammenhang steht „Hai’a“ also für eine Formung des Inneren, die so zum Wesen des Menschen geworden ist, dass gewissermaßen die dieser Hai’a entsprechenden Handlungen ohne künstliche, zusätzliche Bemühung des Willens oder des Intellekts, unmittelbar und in der Situation, hervorkommen. Trotz dieses Maßes an Verinnerlichung setzt Al-Ghazâli die beiden Begriffe „Sûra“ und „Hai’a“ noch durch die Attribute „äußerlich“ beziehungsweise „innerlich“ voneinander ab, und dies aus dem Wunsch heraus, die Rolle des Gegenparts des Akhlâq-Inhabers hervortreten zu lassen.

Al-Ghazâli setzt dieses Verhältnis der Menschen untereinander durch ein drittes Wortpaar fest: „nachdenkende Erkenntniskraft“ (Basîra) im Gegensatz zum äußerlich ansetzenden Blick (Basar). Denn der Mensch kann ja die Akhlâq eines Mitmenschen zunächst nur mittelbar durch die beobachtbaren (Basar) Handlungen annehmen, worauf er durch seine nachdenkende Erkenntniskraft (Basîra) aus dem Aufgenommenem auf die Akhlâq schließen muss. So entstehen zwei Begriffsgruppen: • Khalq (erschaffener Körper) - Sûra (Form) - Zâhir (offen zutage liegend, äußerlich) - Basar (der Blick, die sinnesgebundene, körperliche Sehkraft des Auges); dies ist die Ebene der natürlichen, elementaren Aufnahme durch die sinnlich-körperliche Welt. • Khuluq (Charakereigenschaft) - Hai’a (Gestalt, bestimmte Art und Weise des Seins) - Bâtin (verborgen, innerlich) - Basîra (nachdenkende Erkenntniskraft); dies ist die Ebene der innerlichen Verarbeitung und der durch Verstand und Herz zu erschließenden Dinge.

In dieser Systematik ist aber auch der logische Umkehrschluss impliziert: da die offen erkennbaren Handlungen der ersten Ebene, die Akhlâq im engeren Sinne aber der zweiten angehören, ist keine unbedingte Vergleichbarkeit von Handlungen und Akhlâq gegeben; Ganz offensichtlich muss zur Verbindung beider Teile ein bestimmter Prozess seitens des Gegenparts eines Akhlâq- Inhabers stattfinden.

Die Fallgrube, dass ein unbedachter Beobachter aus einer äußeren Handlung auf eine innere Haltung schließt, ist einerseits tief und von ihrem Grund her erkennbar und logisch verständlich; so zeigt Al-Ghazâli das Verhältnis von Absicht, Handlung und Bewusstsein auf:

„So ergeben sich also vier Aspekte: erstens die (ihrem Äußeren nach) schöne bzw. hässliche Handlung; zweitens die Fähigkeit, (gegebenenfalls) beides (schönes oder hässliches Handeln) in die Tat umzusetzen; drittens die Erkenntnis dieser beiden Seiten; und viertens die Form (Hai’a) der Seele, mittels welcher die Seele zu einer der beiden Seiten hinneigt und durch welche ihr eine der beiden Handlungsmöglichkeiten leicht fällt.“

In der innerlichen Form der Seele ist natürlich die Absicht mit inbegriffen, insofern, als erst die bewusste, wiederholte Absicht zu einer Handlungsart diese Form (Hai’a) im Inneren heranreifen lässt.

Da Al-Ghazâli bereits klargestellt hat, dass die meisten bekannten Eigenarten der schönen Akhlâq nur Früchte - also: Einzelergebnisse - sind, liegt nahe, dass es Elementar-Akhlâq gibt, in denen alle weiteren innewohnen. So stellt Al-Ghazâli zusammenfassend vier Elementartugenden fest, aus denen sich alle weiteren ableiten lassen: • Die Weisheit (Hikma) • Die Tapferkeit (Schadschâ’a) • Die Tugendhaftigkeit bzw. Sittlichkeit (‘Iffa) • Die Gerechtigkeit (‘Adl)

Die sämtlichen Arten der Akhlâq innewohnenden Zwiespältigkeit erläutert er durch den Vergleich mit der noch ungeteilten Fitra und der folglich noch ungeteilten Entscheidungsmöglichkeit des Menschen, die allein noch kein Khuluq bedeutet. Dass zudem bei diesem Prozess der Entscheidungsfindung und Khuluq-Bildung die rein äußerlichen Handlungen einem Beobachter nicht ausreichen können, um bei einer fraglichen Person direkt von äußerlich guter Tat auf innerlichen guten Khuluq schließen zu dürfen, verdeutlicht Al-Ghazâli wie folgt: „Tatsächlich lässt sich unter ‘Khuluq’ nicht die (bloße) Handlung verstehen, denn es gibt doch so manche Person, die ihrer Art nach freigiebig ist, aber diese Genügsamkeit nur darum nicht umsetzt, weil entweder bei ihr Geldmangel herrscht oder ein sonstiges Hindernis zum Geldausgeben besteht, während andererseits so mancher nach außen hin geizig erscheint, aber so verfährt, weil es einen konkreten Grund gibt bzw. weil er hochmütig ist.

Auch kann man unter ‘Khuluq’ keine reine (positive, einseitige) Kraft verstehen, weil die Beziehung von ‘Khuluq’ sowohl zu einem Festhalten beziehungsweise Loslassen besteht, ja beide Gegensätze vereint ‘Khuluq’ zu völlig gleichen Teilen. So ist jeder Mensch, der ja gemäß der Fitra erschaffen wurde, in der Lage, etwas festzuhalten oder zu geben, und von daher ist weder ein Khuluq des Geizes noch ein Khuluq der Freigiebigkeit zwingend vorhanden.

Auch ist der Khuluq nicht als Erkenntnis zu begreifen, da die Erkenntnis innerhalb eines einzigen, unteilbaren Aspektes mit Schön und Hässlich zusammenhängt. Vielmehr wird er durch eine vierte Definition erfasst, und zwar, dass es sich um eine Form (Hai’a) handelt, durch welche die Seele in die Lage (zum entsprechenden konkreten Handeln) versetzt wird, denn von ihr - der Seele aus - geschieht das wahre Festhalten und Ausgeben.“

Ihyâ’ ‘Ulûm Ad-Dîn, von Abu Hamid Muhammad ibn Muhammad Al-Ghazâli (gest. 505 n.H.); Zitate und Themen aus folgendem Unterkapitel des Werks: „Verdeutlichung der Wirklichkeit von schönem und üblem Khuluq“, in dem „Buch der Erziehung der Seele“ / Zweites Buch im Viertelteil des Werkes „Al-Muhlikat“ (die Zugrunde richtenden Dinge). Ausgabe von Dâr Al-Kutub Al-’Ilmiya, Beirut (o.J.), Bd. 3, S. 87-90.

- Veröffentlicht in der IZ (Islamische Zeitung) -

 

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