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28.10.2004: 
Segenskraft und das Finden der inneren Mitte

Über Baraka und Dhikr im Monat Ramadan - Von Abdurrahman Reidegeld, Köln


Wohl kaum in der neueren Geschichte war der Muslim so vielen Anfechtungen und Heimsuchungen ausgesetzt wie in diesen letzten Jahren, und nach wie vor scheint es den meisten Menschen weltweit möglich, sich in Ruhe zu besinnen. Zu viele Eindrücke und furchtbare Erlebnisse beherrschen Denken und Bewusstsein, zu sehr sind wir alle einer Lebensweise entfremdet, die ganzheitlich, in sich selbst und aus sich selbst, Kraft und Stärke schöpfen kann.

Der Muslim erlebt aus seiner Warte heraus das derzeitige Weltgeschehen als passiver Beobachter und Erleidender ohne Stimme - jedenfalls misst man seiner Stimme offenkundig in der Weltbevölkerung keinen Wert zu.

Und dennoch gibt es Hoffnung. Und dennoch gibt es die Möglichkeit, Allahs Zufriedenheit zu erlangen, und zugleich die Chance auf Erkenntnis einer Änderung. „Wie das alles“, seufzt da sicher so mancher, „wie sollte das geschehen?“

Dazu gehört vor allem die Einsicht, dass fast jeder Muslim seine innere Mitte verloren hat. Damit meine ich die Kraft, die sich aus Wissen (‘Ilm) und Gedenken Allahs (Dhikr) speist.

Wer keine Zeit findet, sich auch nur fünf Minuten jeden Tag still hinzusetzen und alle auf ihn einstürmenden Dinge abzublocken, nur konzentriert auf ein bestimmtes Wort Allahs, der hat verloren: Er wird nämlich zum Spielball der Wellen, die das Meer des Diesseits aufpeitschen, er kann in seinem kleinen Boot sein Steuerruder kaum festhalten, immer bedroht von der nächsten Böe, der nächsten Mauer aus Wasser und Gischt, dreht sich und klammert sich an das Ruderholz, anstatt es zu führen.

Diese Welt ist ein Ort der Täuschung; Allah der Erhabene selbst sagt dies deutlich in vielen Versen, etwa in Sure Al-Hadid, 20: „Und das diesseitige Leben ist lediglich eine vorgetäuschter, angenehmer Nießbrauch.“

Denselben Grundinhalt zeigt die berühmte Prophetenüberlieferung (Hadith), welche lautet: „Die Menschen schlafen, und wenn sie sterben, erwachen sie.“ Das diesseitige Leben wird also mit einem Traum, das jenseitige aber mit der eigentlichen Realität verglichen.

Es gehört zu den größten Erfolgen der Weisen aller Kulturen und Völker, erkannt zu haben, dass nur in der Art der Selbstbesinnung und des inneren Gedenkens der Mensch sich von den Zwängen seines Hier und Jetzt befreien kann.

„Was meinst Du damit?“, möchte da sicher so mancher fragen, „willst Du etwa andeuten, dass durch deine Art des Gedenkens unsere Probleme hier und jetzt gelöst werden?!“

Nun, entgegne ich darauf, wer sich - gemäß einer Reihe von sicheren Hadithen - selbst erkennt, kann seinen Herrn erkennen; im Umkehrschluss gilt daher: wer sich nicht selbst erkennt, kann auch seinen Herrn nicht erkennen. Außerdem wird die Art des Dhikr, in der der Mensch sich im Gedenken/Dhikr seiner Existenz und den Welten zuwendet, von Allah dem Erhabenen ausdrücklich gewünscht, wie etwa in den berühmten Versen am Ende der Sure Al- ‘Imran (83), Ajat 191: „Diejenigen, die Allahs gedenken /bezüglich Allahs Dhikr vollführen, stehend, sitzend und auf ihren Seiten ruhend, und über die Erschaffung der Himmel und der Erde nachdenken […]“

Dies ist der erste Schritt, um innere Ruhe vor Anfechtungen zu erlangen. Das zweite ist ein aktives Streben nach Segenskraft, der Baraka. „Welche Bedeutung hat denn die Baraka in unserer Zeit, welche Probleme ließen sich wohl damit lösen?“, fragt da wiederum so mancher in seinem Inneren. Genau das ist der Schlüssel zum Verständnis: weil so viele Muslime in Wahrheit nicht mehr überzeugt sind, dass alles möglich ist, wenn Allah es verfügt, dass auch die sogenannten Naturgesetze nur Grundregeln sind, die wohl meist gelten, aber keineswegs immer gelten müssen, erkennen sie in ihrem Inneren die Möglichkeit von außergewöhnlichen Dingen, von Wundern, von besonderen Zeichen, die Allah auch hier und heute, jenseits aller Handlungen der Menschen, setzen kann, nicht mehr an.

Es ist eine geheime Verweigerung des Denkens, eine Diktatur der geistigen Verzweiflung, welche in - zugegebenermaßen - schlimmen Zeiten der Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Heimsuchung ihren Weg in die Herzen sucht.

Aber genau davor warnte Allah und Sein Gesandter, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden: nicht der völligen Verzweiflung (Ja’s) anheimzufallen; so heißt es in Sure Jusuf, 87-88: „Verzweifelt nicht hinsichtlich der Barmherzigkeit Allahs (rauhi-llah), wahrlich nur die Menschen, die die Wahrheit verleugnen, verzweifeln an der Barmherzigkeit Allahs.“

Wer dies demnach tut, hat in Wahrheit schon an Allah und Seiner Allmacht gezweifelt, daran, dass Er die wahre Herrschaft immer und überall, über alle Menschen und sämtliche Schöpfung, innehat, immer innehatte und immer innehaben wird.

Stattdessen steht es dem Muslim an, sich eingedenk zu sein (Dhikr), dass gemäß der Gewohnheit Allahs (der Sunnatu-llah) bestimmte Vorausetzungen erforderlich sind, damit man Vergebung und Kraft erhält. Es heißt klar und deutlich in der Sure Al-Fath, 43: „Also wirst du in der Gewohnheit Allahs (li-sunnati-llahi) keinen Wandel (tabdila) finden, und du wirst auch in der Gewohnheit Allahs keine Abweichung (tahwila) finden.“

Dies bezieht sich darauf, dass Widersetzlichkeit Strafe nach sich zieht, und auch dass der Gehorsam gegenüber Allah und seinen Gesandten Lohn und Fortkommen in Diesseits und Jenseits bewirkt. Man zeigt seine Liebe und seine Ergebenheit Allah gegenüber in Gottesdienst (Ibada), und der Lohn in Diesseits ist Segen in allen Dingen (Baraka), während der Lohn des Jenseits das Paradies ist.

Manche Zeiten und Zeitpunkte sind besser geeignet als andere, um auf dem Wege der Ibadât, der Gottesdienstlichen Handlungen, voranzukommen, um Vergebung für Sünden zu erlangen, um der Annahme der guten Handlungen sicherer sein zu können, um auf Erhörung des Du’a, des freien Bittgebetes, hoffen zu können.

So ist der Tag des Dschumu’a, des Freitagsgebets, vorzüglicher als die anderen Tage, und so ist eine Stunde des Dschumu’a-Tages besser als die übrigen; in den Sahih-Überlieferungen heißt es: „Es gibt eine Stunde am Freitag, in der kein Du’a’ zurückgewiesen wird.“

Auch ist das letzte Drittel einer jeden Nacht besser - hinsichtlich der Erhörung der Bitten an Allah - als die ersten zwei Drittel jener Nacht. Und derart ist auch der Vorzug des Monats Ramadan gegenüber den restlichen Monaten des Jahres, und im Ramadan sind die ‘Ibadât der Nächte vorzüglicher - weil höher angesehen - als die am Tag verrichteten.

Schließlich sind die zehn letzten Nächte des Ramadan wertvoller als die übrigen Nächte des Monats, und in diesen zehn letzten Nächten liegt die Nacht der Bestimmung, die Lailatu’l-Qadr, in welcher jegliche Ibada besser ist als gleichartige Ibada während tausend Monaten. Die Baraka dieser Nacht - und allgemein des Ramadan - wird durch den Qur’an ausdrücklich bestätigt in der Sure Ad-Dukhan, 3, wo es heißt: „Wahrlich, Wir sandten ihn (den Qur’an) herab in einer Nacht voller Segenskraft (fi lailatin mubaraka)“, wobei die Gelehrten absolut einig sind, dass hier die Lailatu-l-Qadr gemeint ist.

Die Auswirkung dieser Baraka ist nicht nur geistig, sondern erstreckt sich auch auf Versorgung (Rizq) und sämtliche Aspekte des Lebens. Wer also diese Baraka des Ramadan und der Nacht der Bestimmung zu nutzen weiß, dem eröffnen sich - mit Allahs Hilfe - Wege, die er sich nicht vorzustellen vermag.

Nichts ist unmöglich, wenn Allah - Erhaben ist Er - es will.

 

- Veröffentlicht in der IZ (Islamische Zeitung) -

 

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