04.05.2005: 
Ein komplexes Rechtsgebiet (2)

Grundlagen: Zweiteilige Einführung über Erbschaft und Testament im Islam - Von Abdurrahman Reidegeld, Köln


Dies ist der zweite Teil eines Textes über die Grundlagen des Erbrechts im Islam, welches nicht nur zu den komplexesten Rechtsgebieten im Islam zählt, sondern dessen Praxis auch zur Entwicklung der algebraischen Mathematik einen wesentlichen Beitrag geleistet hat.

Erben per Testament Das Testament selbst (Wasija) birgt verschiedene Möglichkeiten für den Erblasser, individuelle Regelungen vorzunehmen und Personen zu bedenken, die per Pflichterbe nichts bekommen würden. Naturgemäß wird also bei einem gültigen Testament die gesamte Erbmasse aufgeteilt in Testament-Anteil und Pflichterb-Anteil. Da die relativen Verhältnisse der Pflichterben zueinander aber nicht durch das Testament verändert werden, ändern sich folglich die absoluten Bemessungen. Dies wird dadurch erklärlich, dass Testamentmasse immer eine absolute Größe darstellt, Fard-Erbe aber zunächst nur eine relative. Wenn zum Beispiel Pflichterben wie zwei Töchter grundsätzlich nach Abschlussbetrachtung aller existenter Erben 2/3 des Erbes bekommen (per Pflichterbe), so wird dieser relative Anteil - so kein Testament vorliegt - tatsächlich auch zum absoluten Anteil (also zwei Dritteln). Besteht aber ein Testament über ein Drittel der Erbmasse, so entsteht oft ein anderes Bild:

Beispiel ohne Testament: Anteile: 6 2 Töchter: 2/3 4 Mutter: 1/6 1 Onkel väterl.: Ta’sib 1

In diesem Beispiel ohne Testament erhält jede Tochter 2/6=1/3, die Mutter 1/6 und der Onkel väterlicherseits ebenfalls 1/6 (per Miterbe/ Ta’sib). Dasselbe Beispiel mit Testament: Anteile (korr.): 15 2 Töchter: 2/3 8 Mutter: 1/6 2 Onkel väterl.: Ta’sib - Testament: 1/3 (abs.) 5

Nunmehr verringern sich die Pflichtteile durch das Testament, der Onkel fällt als Ta’sib-Erbe ganz fort; jede Tochter erhält 4/15, die Mutter 2/15, das Testament bleibt als fester absoluter Anteil auf 1/3. Ein Testament kann normalerweise bis zu einem Drittel nicht angefochten werden; ist der testamentarisch vermachte Anteil am Gesamterbe aber größer als ein Drittel, müssen alle Pflichterben ausdrücklich mit diesem Vermächtnis einverstanden sein, ansonsten wird nämlich das Testament auf ein Drittel reduziert und nur so modifiziert durchgeführt. Wie schon gesagt, sind alle Anteile innerhalb der Pflichterben und auch innerhalb der Testamenterben relativ zueinander. Hatte der Erblasser nämlich auch in dem Testament relative Anteile festgesetzt, werden diese analog der Regel verringert, die wir schon bei den Fard-Erben sahen.

Beispiel: Der Testament-Bereich teilt sich in 1/2 für Arme, 1/2 für einen guten Freund der Familie. Pflichterben sind hier 1 Tochter und 1 Sohn. Grundteilung des Fard: Anteile (korr.): 8 Tochter: 1/2 2 Sohn: (Ta’sib) 4 Ehemann: 1/4 2 Grundteilung bei Testament: Anteile: 2 Arme: 1/2 1 Freund: 1/2 1 Zusammen: Anteile(korr.): 8+(2x2) 12 Tochter: 2 Sohn: 4 Ehemann: 2 Arme: 2 Freund: 2

Wie man erkennt, reduziert sich der ursprüngliche Anteil etwa bei der Tochter so: zunächst 1/2, wird er durch Miterbe (Bruder) zu 1/4, und wegen Testaments zu 2/12=1/6. Festlegung der endgültigen Anteile Die letztendlichen absoluten Anteile sämtlicher Erbberechtigten können erst festgelegt werden, wenn alle entscheidenden Faktoren berücksichtigt worden sind, wie Erbhindernisse, gültige Testamentbedingungen, verschollene oder nicht auffindbare Personen der Erbberechtigten, sowie noch ungeborene Kinder. Bei den vollständigen Erbhindernissen fallen heutzutage de facto zwei an: (a) Mord bzw. (Mit-)Schuld am Tod des Erblassers: Laut Hadith (Der Mörder des Erblassers erbt nicht) wird ein prinzipieller Erbe - sei es per Fard oder Ta’sib - am Erben gehindert, er gilt als nicht vorhanden (völliger Erbausschluss). (b) Unterschiedlichkeit der Religion: Laut Hadith (Der Muslim beerbt den Nichtmuslim nicht und umgekehrt) besteht im islamischen Erbrecht per Pflichterbe keinerlei Beziehung zwischen Muslimen und Nichtmuslimen, das heißt weder erbt ein Muslim von Nichtmuslimen, noch ein Nichtmuslim von Muslimen, auch wenn Ehe und Blutsverwandtschaft vorhanden sind. Hiervon ausgenommen ist die testamentarische Festlegung: Es ist nach islamischem Erbrecht zulässig, dass ein Muslim etwas einem Nichtmuslim per Testament vererbt oder per Testament eines Nichtmuslims von diesem erbt. Wenn ein Testament eine unsittliche Handlung oder eine verbrecherische Handlung als Voraussetzung zum Erbantritt stellt, wird diese Bedingung ersatzlos gestrichen, und der so bedachte Erbe fällt aus der Verteilung fort. Ähnlich ist es, wenn Erbanteile der Pflichterben betroffen wären. Beispiel: Jemand bedenkt einen Freund mit einem Sechstel der Gesamterbmasse, falls er erfolgreich einen Diebstahl begangen hat; oder jemand will den Anteil eines Pflichterben wegfallen lassen, indem er einem Freund per Testament diesen Anteil zugeben möchte. Außerdem können bestimmte Berechtigte unter besonderen Vorgaben fortfallen. Ein Erblasser etwa verfügt: „In jedem Fall soll ein Sechstel meines Vermögens an X gehen, ein weiteres an Y; ein weiteres Sechstel an meinen Freund Z, sofern keine Schulden zum Zeitpunkt meines Ablebens bestehen“. Wenn die Pflichterben nur mit einem Drittel als Testamentmasse einverstanden sind und tatsächlich zum Todeszeitpunkt Schulden des Erblassers be-glichen werden mussten, wird der Freund Z fortfallen. Waren keine Schulden existent und bestehen die Pflichterben auf ihrem Recht, werden alle drei genannten Testamenterben in ihrem jeweiligen Anteil auf ein Neuntel der Gesamterbmasse zurückgesetzt. Bei verschollenen Personen wird der ihnen zustehende Anteil vom Richter zurückgelegt und bewahrt, bis die Person gefunden oder - nach verschiedenen Einzelauffassungen der Gelehrten - die Person ein Durchschnittssterbealter erreicht hätte und bis dato noch nicht ausfindig gemacht werden konnte. Bei ungeborenen Kindern muss laut islamischem Erbrecht die Geburt oder eine Fehlgeburt abgewartet werden: Auch das Kind, das zum Zeitpunkt des Todes des Erblassers lebend im Mutterleib war, hat im islamischen Erbrecht einen Anspruch. Lebt das Kind nach der Geburt, gilt es als ganz normaler Erbe, kommt es bereits tot zur Welt, wird sein ursprünglicher Anteil umverteilt, als hätte es den Kinderben nicht gegeben. Stirbt ein Kind aber unmittelbar nach der Lebendgeburt, wird es als echter Erbe und neuer Erblasser betrachtet und sein Anteil entsprechend weitervererbt, was eine Form der Munasakha (Auflösung der ursprünglichen Erbanteile) darstellt.

Die praktische Aufteilung der Erbmasse Meist steckt das Problem im Detail, und auch im Erbrecht tritt die große Herausforderung da auf, wo die errechneten Anteile mit den real vorhandenen Sachwerten in Verbindung gebracht werden müssen. Wenn etwa Grundstücke oder Immobilien in Kleinstteile aufgeteilt werden müssten, bietet sich eher an, Anrechte abzukaufen oder auszugleichen. Wenn etwa jemand Bargeld und Hausanteile hinterläßt, werden alle Sachgruppen ja getrennt erfasst. In manchen Fällen blieben aber Erbrechtsfälle lange Jahre unerledigt, etwa durch unsichere Zustände (Krieg, Bürgerkrieg, Zerstreuung der Erben weltweit), und so werden in diesen Fällen Vermessungen an Grund und Boden, Wohnungsschätzungen und dergleichen vorgenommen. Das größte Problem steckt aber auch hier in der menschlichen Unzulänglichkeit: Wenn sich Erben uneins sind über die Aufteilung von eigentlich unteilbaren Einheiten (Häuser etc.), wenn angebliche Besitzüberschreibungen und Testamente zusammentreffen, dann bedarf es großen Fingerspitzengefühls der Richter. Schon in klassisch-islamischer Zeit - etwa dem 2. Jhr. der Hidschra = dem 8. Jahrhunder n. Chr. - finden sich detaillierte Handbücher zu derartigen Fragen. Heutzutage ist die Kenntnis des eigentlichen Erbrechts und speziell die konkrete Ausrechnung vor Ort weitgehend in Vergessenheit geraten, und nur noch wenige Gelehrte und Fachleute beschäftigen sich kontinuierlich mit diesem - sicherlich - schwierigen Gebiet.

Literaturverweis: Dr. Mustafa Al-Bugha, Dr. Mustafa Al-Khin, ‘Ali Asch-Schurbadschi: Al-Fiqh al-Manhadschi ‘ala Madhhab al-Imam Asch-Schafi’i. 5. Teil: Fi’l-waqf wa’l-Wasija wa’l-Fara’id (über Stiftung, Testament und Pflichterbteilung). 1. Aufl., Dar Al-Qalam, Damaskus 1408 H./ 1987 M. (Anmerkung des Verfassers: Diese Reihe ist in ihrer Art leider nur gemäß des schafi’itischen Fiqh erschienen; sämtliche Einzelbelege werden gegeben und detailliert analysiert. Die wissenschaftliche Besprechung und Definition ist auch heute in der modernen Literatur des Fiqh in dieser Kürze und Prägnanz unerreicht. Daher wird dieses Werk auch von Anhängern anderer Madhahib hoch gelobt und verwendet. Beim vorliegenden Thema spielen zudem Madhhab-Unterschiede kaum eine Rolle). Muhammad ‘Ali As-Sabuni: Al-Mawarith fi’sch-Schari’ati’l-Islamija fi dau’i’l-Kitabi wa’s-Sunna. Dar al-Qalam, Damaskus, 2. Auflage 1413 H/ 1993 M. (Anmerkung des Verfassers: Ein bemerkenswertes Werk, was auch seltenere Madhhab-Meinungen berücksichtigt.)

 

- Veröffentlicht in der IZ (Islamische Zeitung) -

 

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