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13.04.2005: 
Ein komplexes Rechtsgebiet (1)

Zweiteilige Einführung über Erbschaft und Testament im Islam - Von Abdurrahman Reidegeld, Köln


In allen Kulturen und zu allen Zeiten haben Menschen Besitz gesammelt und gehortet. Und weil der Mensch sterblich ist, ging immer Besitz in neue Hände über. Naturgemäß stellt das Erben die angenehmste Art des Besitzerwerbs dar, und darum ist hier die Gefahr von Übervorteilung und Ausspielen von Macht gegenüber Schwächeren immer vorhanden. Daher gehört das islamische Erbrecht - welches in diesem Beitrag in wissenschaftlicher Hinsicht betrachtet werden soll - zu dem Kernbereichen der islamischen Pflichtenlehre des Fiqh und wurde äußerst detailliert behandelt.

Auch ist es das einzige Gebiet, zu dem der Qur’an in allen Details spricht und zu dem es etliche Konsens-Entscheidungen der Gelehrten (Idschma’) gibt. Die sonst übliche Meinungsvielfalt der sonstigen Themen des Fiqh findet sich hier nur in einer handvoll Randfragen, währen alle wesentlichen Punkte des Fara’id-Bereichs (Pflichterbe) in Übereinstimmung aller Schulen bestehen - ein wahrlich einzigartiger Fall, der nicht stark genug hervorgehoben werden kann. Aus diesem Grunde genügen auch weiter unten ein bis zwei Paradebeispiele an Literatur, wo die Madhhab [die Rechtsschule] eher unwichtig ist und die klare und erlernbare Darstellung als Schwerpunkt dasteht. Der Stellenwert des Wissens über Erbteilung ist in Sicht der Schari’a gewaltig: Der Gesandte Allahs, der Segen und Friede Allahs mögen auf ihm sein, hat in mehreren Überlieferungen auf diesen Umstand hingewiesen, und auch auf die Tatsache, dass dieses Wissen in Nähe des Jüngsten Tages vergehen werde: Von Ibn Mas’ud, der berichtete, dass der Gesandte Allahs sagte: „Erlernt das Wissen um die Pflichterbteile (Fara’id), und lehrt dies die Menschen; wahrlich, ich bin ein Mensch, der [vom Tode] hinweggenommen werden wird, und auch dieses Wissen wird hinfortgenommen werden, sodass Heimsuchungen erscheinen werden, bis dass schließlich zwei Männer sich über den Erbteil uneinig sind und niemanden mehr finden werden, der zwischen ihnen aufteilen könnte.“ (Sahih-Hadith bei Al-Hakim Ad-Darimi in seinem Mustadrak, 4/333). Und von Abu Huraira, dass der Gesandte Allahs sagte: „Erlernt das Wissen um die Pflichterbteile (Fara’id), denn sie sind ein fester Bestandteil eurer Religion (Din); sie machen die Hälfte des Wissens aus, und sie sind das erste an Wissen, was von meiner Umma hinfortgenommen werden wird.“ (Hasan-Hadith bei Ibn Madscha in seinen Sunan, Nr. 2719). Zu Beginn der medinensischen Zeit nach der Hidschra waren die Verse zu den Pflichtteilen des Erbens noch nicht herabgesandt worden; zu dieser Zeit war es eine Pflicht, ein Testament abzufassen. Später, nachdem die einzelnen Anteile der Pflichterben durch die Offenbarung festgelegt wurden, wurde die unbedingte Verpflichtung zur Abfassung eines Testaments aufgehoben, doch blieb die Möglichkeit erhalten, freiwillig ein Testament als zusätzliche Regelung abzufassen, um bestimmte Nicht-Pflichterben zu bedenken und speziell zu Geschäftsverpflichtungen und Schulden Klarheit zu schaffen - in späterer Zeit: auch Stiftungen zu begründen - und so weiter. Die Pflichtteile des islamischen Erbrechts sind zunächst relative Anteile, auf der Basis von 2 und 3 als Grundteiler (Hälfte, Viertel, Achtel bzw. ein Drittel, zwei Drittel, Sechstel). Durch das Zusammenspiel etlicher Faktoren müssen die absoluten Anteile jedoch erst errechnet werden, wobei zunächst mehrere Fragen gestellt werden: • Die Bezahlung von noch offenstehenden Schulden • Die Bezahlung der Beerdigung • Die Klarstellung von Gütern, die per Handelsvertrag festliegen, etc. Arten des Erbens Grundsätzlich bestehen folgende Grundarten zu erben: a) Per Pflichtanteil (Fard) beziehungsweise per Miterbe (Ta’sib) • Aufgrund von Blutsverwandtschaft (Qaraba) • Aufgrund einer gültigen Ehe (Zawadsch) • Aufgrund von Klientelverhältnis (Wala’) b) Per Erbe von weiblicher Verwandtschaftsseite (Arham) c) Per Testament (Wasija) Während Pflichterben und Miterben sich nach genau definierten Anteilen in das Gesamterbe teilen, kann der Anteil des Testaments erheblich variieren. Auch sind die Pflichterbteile als relative Anteile zu verstehen: wenn etwa zwei oder mehr Töchter des Verstorbenen - als Gruppe - grundsätzlich zwei Drittel der Erbmasse erhalten, aber auch Ta’sib-Erben vorhanden sind, so ist der konkrete Anteil erst zu errechnen. Beispiel: 2 Töchter = 2/3 Pflichterben (Fard), 1 Bruder = Miterbe (Ta’sib)

Anteile (korr.): 4 Tochter 1 2/3 (ges.) 1 Tochter 2 1 Bruder (Ta’sib) 2

Hier erhält also jede Tochter als absoluten Anteil 1/4, der Bruder 2/4=1/2 des Erbes. Deutlich wird: es sollen einheitliche Minimalanteile berechnet werden (hier: vier Anteile), mit einem gemeinsamen Teiler (Viertel im Beispiel). Bei einem Erbrechtsfall mit mehreren Dutzend berechtigten Personen kann solch ein Teiler schnell die Hundertergrenze überschreiten, denn ein weiterer Grundsatz ist, dass kein Anrecht verloren gehen darf, wie klein es auch immer sei. Erben per Pflichtanteil beziehungsweise Miterbe Einige Verwandtschaftsgrade erben immer per Pflichterbe (Fard), andere nur unter besonderen Bedingungen. Zu denen, die immer ein solches Fard-Recht besitzen, gehören die Eltern, die Kinder und überlebende Eheleute. Alle weiteren Verwandte (im Sinne der Blutsverwandtschaft/Qaraba) werden nur unter bestimmten Bedingungen erben, wobei ihr Anteil beeinträchtigt - will sagen: verringert - werden oder sogar ganz fortfallen kann. Eine Besonderheit des islamischen Erbrechts liegt in dem Verhältnis der eigentlichen Pflichterben (Fard-Erben) und der sogenannten Miterben (Ta’sib-Erben), weil diese Personen - wenn sie ohne Fard-Erben bestehen - das gesamte Erbe nehmen, aber bei Vorhandensein von Fard-Erben nur das Erbe, was die Pflichterben übrig lassen, beziehungsweise mittelbar erben, nämlich wegen des Vorhandenseins bestimmter Pflichterben. So kann es vorkommen, dass ein Erbe per Ta’sib ganz fortfällt oder sein Erbanteil durch bestimmte Umstände aufgezehrt wird. Die Verwandten von rein weiblicher Abstammungsseite (die Arham-Erben, zum Beispiel Onkel mütterlicherseits) erben nur dann, wenn weder Fard- noch Ta’sib-Erben vorhanden sind. Ein Beispiel zum völligen Erbausschluss der Ta’sib-Erben: Zwei Töchter, die Mutter, der Vater und ein Onkel väterlicherseits sind existent.

Anteile: 6 2 Töchter: 2/3 4 Mutter: 1/6 1 Vater: 1/6 1 Onkel v. (Ta’sib) -

Die beiden Töchter erben per Pflichtteil zwei Drittel, die Mutter per Pflichtteil ein Sechstel, der Vater per Pflicht ein Sechstel, der Onkel (als Miterbe, Ta’sib-Erbe) erhält nichts. Wäre jedoch der Vater nicht vorhanden, erbte der Onkel anstelle des Vaters das letzte Sechstel. Zum Wegfall eines Ta’sib-Erben wegen Testament:

Anteile: 3 2 Töchter: 2/3 2 Onkel v. (Ta’sib) - Testament: 1/3 (abs.) 1

Wenn zwei Töchter und ein Onkel väterlicherseits existieren, erhalten die beiden Töchter zusammen 2/3, der Onkel den Rest des Erbes (hier: 1/3). Besteht aber ein gültiges Testament über 1/3 der Gesamterbmasse, verbleiben die Töchter mit 2/3, das Testament wird zwingend das restliche Drittel verbrauchen, der Onkel väterlicherseits fällt weg und erhält nunmehr nichts. Als Beispiel zur Verringerung des Erbteils bei Ta’sib:

Anteile: 6 Mutter: 1/6 1 Sohn: (Ta’sib) 5 Anteile: 6 Mutter: 1/6 1 Sohn: (Ta’sib) 3 Testament: 1/3 (abs.) 2 Erben die Mutter und der Sohn, so erhält die Mutter 1/6, der Sohn den Rest per Ta’sib (also 5/6). Ist jedoch ein gültiges Testament über 1/3 der Gesamterbmasse vorhanden, verbleibt der Fard-Anteil der Mutter, wie er ist (auf 1/6), der Anteil des Sohnes wird aber verringert auf 3/6=1/2, denn das Testament erhält hier einen festen Anteil am der Gesamterbmasse von 2/6=1/3. Als Beispiel zur Verringerung des Erbteils bei Pflicht-Erben:

Anteile: 3 2 Töchter: 2/3 2 Onkel v. (Ta’sib) 1

Anteile (korr.): 6 4 Töchter: 2/3 4 Onkel v (Ta’sib) 2

Sind zwei Töchter und ein Onkel väterlicherseits existent, so erben die beiden Töchter (als Fard-Teil) zusammen zwei Drittel, der Onkel (per Ta’sib) das restliche Drittel. Sind es jedoch mehr als zwei Töchter, so gelten alle Töchter als gleichberechtigte Erben des 2/3-Anteils und müssen sich ihn unter sich zu gleichen Teilen verteilen, und so wird sich der absolute Anteil einer jeden Tochter entsprechend verringern: bei 4 Töchtern erhält daher eine jede naturgemäß nur noch ein Sechstel. Außerdem bestehen noch andere bedeutende Möglichkeiten, wie mittelbar geerbt wird: Wenn ein Erblasser verstirbt, das Erbe aber aus verschiedenen Gründen nicht verteilt wurde, und dann einer der ursprünglichen Erben verstirbt, muss der „frei gewordene“ Anteil des ursprünglichen Erben wieder auf dessen eigene Erben (Zweite Vererbung) umverteilt werden, dies aber innerhalb ein und derselben Gesamt-Erbteilung. Diese Binnenverteilung beziehungsweise Feinauflösung von ursprünglichen Anteilen in neue Einzel-Erbteilungen nennt man „Munasakhat“, und es sind diese Neu-Teilungen, die oft sehr komplizierte Teiler bei der Endberechnung verursachen (in Einzelfällen bis zu 1.000er Stellen).

- Veröffentlicht in der IZ (Islamische Zeitung) -

 

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