28.03.2007: 
Essay: Qur’an und Relativierung

Eine kritische Betrachtung der Bestrebungen, die Stellung der göttlichen Offenbarung zu revidieren. Von Abdurrahman Reidegeld, Wien

(iz). Seit einigen Jahren wird immer stärker an die Muslime weltweit die Frage gerichtet, ob und inwieweit der Qur’an - sein Inhalt, seine Form, sein Charakter als Offenbarungsschrift - noch maßgebend, normgebend, entscheidungswirkend sein könne, müsse oder umgekehrt dürfe. Dabei spielt es eigentlich weniger eine Rolle, wer dieses Ansinnen stellt (tatsächlich gibt es auch etliche muslimische Kreise, die dies tun). Wichtiger ist: Warum wird diese Frage gestellt? Worauf bezieht sich der Wunsch, den Qur’an zu relativieren? Und was soll letztlich als Ergebnis dieser Relativierung herauskommen? Doch beginnen wir langsam und besonnen, um jedes Element dieser Haltung in Form von Fragen zu betrachten.

 

Was ist der Qur’an?

Hier liegt ein wichtiger Schlüssel, der uns den Wunsch nach Relativierung verständlich macht. Während im Rahmen der Bibelkritik weite Teile der früheren Offenbarungsschriften des Juden- und Christentums seit mehr als 100 Jahren in der christlich-jüdischen Bildungsöffentlichkeit neu definiert werden, geschah das bezüglich des Qur’ans in der muslimischen Bildungsöffentlichkeit nicht. Insofern als diese wichtige Zeitspanne in die europäisch dominierte Kolonialzeit in weiten Teilen der islamischen Welt fiel und die ersten Versuche zur wissenschaftlich begründeten Relativierung des Qur’ans durch Orientalisten geschahen, die oft auch in der christlichen Mission tätig waren, konnte ein solcher Versuch der Statusveränderung des Qur’ans für Muslime nur lächerlicher Neuversuch einer Missionierung sein.

Ziel der „Relativierung“ war damals auch nicht eine ernsthafte Neubetrachtung, sondern eine Demontage traditioneller theologischer Ansichten der muslimischen Gelehrtenschaft, die auf solche Weise den einheimischen Bevölkerungen der kolonisierten Völker entfremdet werden sollten. Doch in den letzten 10 Jahren etwa nahm das Projekt der „Relativierung“ einen neuen Akzent und Aufschwung: Immer mehr „moderne“, „aufgeschlossene“ und zudem in Europa hoffähige Personen (nicht selten in offiziellen Ämtern muslimischer Mehrheitsstaaten) versuchen sich darin, den Qur’an als „nicht mehr richtungsweisend“, als „rein ethisches Werk“, als „nicht verpflichtend für den heutigen Muslim“ zu verkaufen. Und ungeachtet dessen, dass diese Position von gläubigen Muslimen nicht vertreten wird, verbreitet sich diese Haltung latent auch unter vielen ungebildeten jungen Muslimen, die weder in einer lebendigen islamischen Tradition des Wissens, noch in einer (wie auch immer) islamisch zu nennenden Umgebung aufwachsen.

Es ist keineswegs nur problematisch, die Frage zu stellen, ob der Qur’an normgebend und richtungsweisend ist, solange man im Gedächtnis behält, was der Qur’an nach seinem Selbstverständnis und dem Zeugnis des Propheten Muhammad, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, eigentlich ist: kein Menschenwort, sondern eine von Allah stammende Offenbarung (Wahi), die Wort für Wort dem Propheten durch den Engel Gabriel, Friede sei auf ihm, eingegeben wurde. Der Prophet war in diesem Moment quasi ein Medium, ein „Mittel“ des Schöpfers, Der sich den Menschen mitteilen wollte und dazu die hocharabische Sprache wählte. Doch der Prophet hat am Qur’an weder einen „mitwirkenden Charakter“, noch einen „interpretierenden Einfluss“. Dies ist der Standpunkt des Qur’ans, den jeder unvoreingenommene Leser (auch der nichtmuslimische) in der Herausforderung des Qur’ans selbst erkennt, sowie der Konsens aller Gelehrten des Islam, der Grundsatz der religiösen Überzeugung, der ‘Aqida.

Welcher Art ist die Relativierung?

Der Begriff „Relativierung“ selbst ist unklar, und wird auch bewusst von seinen Vertretern so verwendet: „Die Aussagen des Qur’ans muss man in heutigem Licht betrachten…“, „die Aussage xyz im Qur’an ist nur relativ zu verstehen“, „hierbei handelt es sich nicht um eine absolute Aussage…“. Es besteht ein wichtiger Unterschied zu denjenigen Aussagen (von gebildeten Muslimen), die bestimmte qur’anische Aussagen durch Überlieferung und fachlich-sachliche Kommentare in eine konkrete Beziehung zur Offenbarungszeit, damaligen und heutigen Umständen des Lebens und Handelns setzen, mit dem Ziel, die Aufforderungen Allahs zu befolgen, und den Aussagen anderer Personen, welche die Aussagen des Qur’ans (im Ganzen) als nicht (oder nicht mehr) verbindlich deklarieren.

Positiv sind aber sicherlich diejenigen Ansätze, neue Interpretationen für Aussagen des Qur’ans zu finden, deren Norm-Charakter nicht unmissverständlich feststeht; wenn jemand etwa diskutiert, ob das Gebet (Salah) heutzutage nötig sei, ist das ein Zeichen, dass er/sie nicht verstanden hat, was das Gebet ist und wozu es dient; aber wenn jemand nach den Beschreibungen von Schöpfung im Qur’an fragt, ist das in jedem Falle produktiv, weil der Qur’an selbst sich einer jeden Herausforderung stellt, ihn mit der beobachtbaren Wirklichkeit des Diesseits zu vergleichen (also auch: in eine „Relation“ zu setzen).

Warum das Bestreben nach Relativierung?

Einer der wichtigsten Gründe für die Propagierung einer Relativierung des Qur’ans liegt in einem Bedürfnis, genauer: dem Wunsch nach Eigenkreierung. Im Zeitalter von Wellness und Dienstleistungswesen besteht eine Geisteshaltung, dass es möglich sei, Religion nach eigener Vorstellung zu definieren und zu gestalten. Da naturgemäß der Mensch Vorschriften in seinem Leben nur ungern akzeptiert, vor allem, wenn sie nicht seinen Wünschen entgegenkommen, ist es das Einfachste, eben selbst festzulegen, was man tun und lassen soll, was so oder eben nicht so wie im Qur’an genannt gilt.

Nun weiß aber jeder Muslim (und auch so mancher Nicht-Muslim), dass der Qur’an sich als Rechtleitung des Menschen versteht, mit durchaus konkreten Forderungen an die Lebensführung des Einzelnen. Hier trennen sich drei Richtungen:

Manche wollen eine völlige Aussetzung der qur’anischen Bestimmungen, da sie „unzeitgemäß“ seien (und was dergleichen Behauptungen mehr sind), und es wird schnell deutlich, dass es nicht um Reformen, sondern um Abschaffung eines religiösen Maßstabes geht.

Andere erkennen den gesellschaftlichen Zielaspekt des Qur’ans, eine geistige Grundlage für eine Gesellschaft zu schaffen, die Gottergebenheit zeigt, und bestätigen dieses Ziel an sich, aber wollen die Art und Weise des Umgangs mit dem Qur’an als Grundquelle des Fiqh, der Pflichtenlehre des Islam, außerhalb des Rahmens der anerkannten Quellen der Fiqh-Wissenschaft verändern.

Wieder andere betrachten sich überhaupt nicht gebunden an die klassischen Gelehrtenmeinungen, fühlen sich aber dem Islam allgemein verpflichtet. Sie wollen aber weder eine Beziehung der klassischen Wissenschaften mit der modernen Gesellschaft herstellen, noch liegt ihr Focus auf dem genuin islamischen Standpunkt. Vielmehr sind sie der Auffassung, es sei das Festhalten an den traditionell gewachsenen Methoden, das ein Hemmschuh für ein erfolgreiches Leben in einer heutigen Gesellschaft sei, und darum müsse man sich an anderen (in der Regel: säkularen) gesellschaftlichen Konzepten ausrichten.

Während die erste Gruppe - nennen wir sie die „Relativierer per Abschaffung“ - sich eindeutig außerhalb eines aufrichtigen Bemühens stellt (es geht ihr ja um die Abschaffung des Qur’ans als verbindlichem Leitfaden des modernen Muslims), liegt die Sache bei der zweiten und dritten Gruppe anders.

Die zweite Gruppe - nennen wir sie „Relativierer per Reform“ - ist an einer wissenschaftlichen Veränderung des Fiqh nicht interessiert, da sie nicht aus diesem Tätigkeitsfeld kommt, es daher auch nicht von der Grundlage her versteht beziehungsweise weil sie sich damit nicht als ernsthafter Alternative zur Lebensgestaltung beschäftigt hat. Allerdings haben diese Leute zumindest Grundkenntnisse über bestimmte Abläufe und Systeme des Fiqh; solchermaßen möchten sie ein „neues System“ auf dem bisherigen „alten“ aufbauen, wodurch natürlich die Rolle des Qur’ans „relativiert“ werden müsse.

Die dritte Gruppe wiederum - nennen wir sie die „Relativierer per Standortwechsel“- ist nicht an gesellschaftlicher Wandlung zum Besseren durch Ausrichtung an der Ethik des Qur’ans interessiert, sondern meint, die ideale (oder bestmögliche) Gesellschaftsform bereits außerhalb dieser Lebensform gefunden zu haben, weshalb die bestehende Gesellschaft, die traditionell-islamischen Werten verbunden ist, von eben diesen Werten gelöst werden müsse. Alle diese Gesinnungsgruppen der Relativierung des Qur’ans greifen Handlungsmuster auf, die schon früher vorhanden waren, aber sie präsentieren diese Handlungsmuster heute geschickter als frühere Protagonisten einer „Säkularisierung“ oder „Modernisierung“, die ja meist aus dem nationalistischen oder sozialistischen Denken heraus argumentierten.

Was verspricht man?

Alle willentlich herbeigeführten Veränderungen in dem Verhältnis von Mensch und Schöpfer sind wesentliche Dinge, also keine nebensächlichen Erscheinungen im täglichen Leben. Wenn wir von einer Relativierung in der Rolle sprechen, die der Qur’an in unserem Leben spielt, so sprechen wir ohne Zweifel von einer Sache, die unser Schicksal auch in Hinblick auf das Jenseits prägen muss.

Fragen wir also: Kann jemand, der eine der oben erwähnten Arten der Relativierung in Sicht und Rolle des Qur’ans durchsetzt, den Menschen garantieren, dass dies die Zufriedenheit Allahs sichert? Welche Belege gibt es dafür, dass dies von der Diktion des Qur’ans gedeckt wird? Oder anders formuliert: Kann ein Vorhaben, dessen Durchführende kein Fachwissen haben und kein Interesse an einer Vertiefung im Fachwissen, erfolgreich sein? Welcher Mensch würde in einem Gebäude wohnen wollen, dessen Erbauer keine Ahnung von Architektur und Statik haben? Welche sagten: Architektur ist altmodisch, wir bauen nach reinem Augenmaß? Und welche auch kein Interesse an Kenntnissen darüber hätten?

Oder noch drastischer: Wenn jeder, der sich „Arzt“ nennt, derart vorgehen würde? Jeder Mensch mit gesundem Verstand würde sich durch Flucht vor derartigen „Experten“ retten.

Schlussbetrachtung

Es bleibt einem jeden Menschen natürlich selbst überlassen, zu welcher Geisteshaltung er sich entscheidet; doch der Qur’an ist nach islamischer Auffassung eine Aussage, die vom Schöpfer her kommt, und die aufgrund dessen eine besondere Behandlung erfahren muss. Die Bemühungen unzähliger aufrichtiger Wahrheitssucher, der Gelehrten, dürfen nicht als nichtig übergangen werden. In ihrem Bemühen, die Wahrheit des offenbarten Wortes besser verstehbar zu machen, nahmen viele Gelehrte auch Verfolgung und unzählige Beschwerden auf sich, schrieben inmitten von Kriegswirren und Hungersnöten Bücher, trugen ihre Habseligkeiten und Familien auf dem Rücken von Reittieren tausende von Meilen, um dem Zwang ungerechter Herrscher zu entgehen, ertrugen Hunger und Armut, um der Nachwelt ein Erbe des Wissens zu hinterlassen. Ein Wissen, das uns zur Erschließung des Qur’ans nötig ist. Wissenschaften, die uns helfen, auf dem Weg fortzuschreiten.

Es steht niemandem an, dieses Erbe zu verschleudern. Und es steht jedem Denkenden an, klare Belege zum Erfolg in Diesseits und Jenseits zu beachten, und das, was nur Zeitströmungen der Begierden und des Nichtverstehens folgt, zu meiden.

Der Autor ist auch Verfasser des Standardwerks „Handbuch Islam“, ISBN 978-3-927606-28-9

 

- Veröffentlicht in der IZ (Islamische Zeitung) -

 

zurück zur Übersicht

Drucken