31.12.2009: 
Auf den Spuren außergewöhnlicher Sprache in der Offenbarung

Zeit und Zeitbezug im Qur’an von Abdurrahman Reidegeld, Wien

(iz). Die hier dargelegten Gedanken beruhen auf einer bestimmten Annahme: dass eine besondere Spannung im arabischen Textverständnis des Qur’an erzeugt wird, wenn man erkennt, dass der Schöpfer nicht an Zeit gebunden ist, aber sich an Wesen richtet (nämlich Menschen), die eben doch in der Zeit gefangen sind. Anders ausgedrückt: Der Schöpfer verwendet freiwillig bestimmte Begriffe und Definitionen von Zeitpunkten, Zeiträumen, Zeitfristen und so weiter, weil es eben der Angesprochene ist, der das Bedürfnis nach Zeitbezug hat - nicht aber Er, der Schöpfer.

Vor der Schöpfung gibt es keine Zeit, die sachlich messbar, oder für unsere Vorstellung bemessbar wäre. Erst mit dem Beginn des ersten Schöpfungsaktes seitens Allahs ta’ala kann man von ­einem Zeit-Beginn sprechen, insofern, als alle Existenz außer der Allahs einen ­Anfangspunkt haben muss und von ­daher bestimmbar - also grundsätzlich in Zeit messbar - wird.

Beginnen wir mit Betrachtungen aus verschiedenen Blickwinkeln.

Zeitpunkte
Bestimmte Ereignisse (etwa: Prophe­ten­wunder, Erschaffung von Wesen durch Allah) werden als punktuelle Zeitereignisse im Qur’an beschrieben, ohne dass dies aber mit klaren Datierungen versehen ist. Offenbar kommt es darauf in der qur’anischen Sicht auch nicht an, es geht nur darum, dass etwas zu einem konkreten, ganz genau festgelegten Zeitpunkt stattfand. Der Leser kann hier zudem nachvollziehen, dass es um einen eindeutigen Zeitpunkt geht, ein einzelnes, einzigartiges Ereignis. Beispiel: „Und gedenke, als dein Herr zu den Engeln sprach: Wahrlich, ich will auf Erden ein Wesen erschafen, was Nachkommenschaft hervorbringt […]“ (Sure Al-Baqara, 30).

Manche Ereignisse werden andererseits im Qur’an in einer Art und Weise beschrieben, dass sie eine „gewöhnliche“ Sicht des Menschen nicht zulassen. Der menschliche Leser erwartet gemäß der Gewohnheit, wie menschliche Sprache verläuft, dass etwa Zeitpunkte, Zeiträume und Zeitverläufe klar definiert werden; doch der göttliche Sprecher verzichtet darauf und gibt stattdessen nur Zeitmarkierer, Zeitintervalle per Gegenbegriff und die Art, wie Zeit verläuft, an.

Dadurch wird aber zwingend die Erwartungshaltung eines jeweiligen Lesers durchbrochen. Statt klarer Bezüge stellt sich der Leser die Frage: Welche Folgerungen werden erwähnt oder können durch die Beschreibung von Zeit gefolgert werden?

Die zahlreichen Hinweise, Warnungen, Verkündigungen Allahs folgen einem nicht-menschlichem Schema; dabei werden sowohl Ereignisse als auch Zeitpunkte miteinander sinngemäß verbunden, aber stilistisch unverbunden beschrieben, wobei die jeweiligen Folgen geschildert werden.

Hieraus ergibt sich stets eine Kernfrage: Was ist hier die Gewohnheit des Schöpfers [Sunnatu’Llahi]? Beispiel: „[Dies ist] die Gewohnheit ­Allahs bezüglich derer, die zuvor bereits ­dahingegangen sind, und du wirst in der Gewohnheit Allahs keinen Wandel finden.“ (Sure Al-Ahzab, 62).

Einige Verknüpfungen, die im qur’anischen Text vorkommen, lassen dem menschlichen Leser oder Hörer nur einen Schluss: dass es sich in vielen Fällen um nicht-diesseitige Zeitverläufe handelt - also um einen Sprachgebrauch Allahs, an den Menschen gerichtet.

In diesen Zusammenhang gehören besonders auch die nicht-begrenzbaren Zeiträume, insbesondere die Darstellungen von Ewigkeit und Jenseits.

Beispiel: „[…] Für sie ist das Paradies bestimmt, durch das Flüsse hindurchflie­ßen, worin sie auf ewig verbleiben […]“ (Sure Al-Ma’ida, 119).

Nicht-erfassbare Zeitpunkte sind logischerweise der Schöpfungsbeginn (dem Wesen nach) und der Jüngste Tag (dem Wissen nach).

Beispiel: „Und sie befragen dich über die Stunde, wann sie denn genau eintreffen wird; wie solltest du dies denn aussagen können? Bei ihrem Herrn liegt ihre endgültige Bestimmung.“ (Sure An-Nazi’at, 42-44). Bei den nicht-diesseitigen Zeitverläufen, die im Qur’an beschrieben sind, wird Unbegrenztes wie Begrenztes dargestellt, Nahes als Fern, zeitlich Unmögliches als gegeben. Hier besteht aber auch ein Hinweis des Qur’an: Der Schöpfer ist nicht in irgendeine Zeit eingebunden, sondern nur - seinem Handeln gemäß - in die Schöpfung.

Spätestens bei den nicht-menschenmöglichen Zeitfolgen erkennt der ­Leser beziehungsweise Hörer des Qur’an zwei Hinweise Allahs:

Der Schöpfer ist nicht an Zeitabfolgen der Geschöpfe gebunden; darum stellt Er diese Abläufe auch nicht gemäß der Lesererwartung dar.

Hinweis des Qur’ans: Die Eigenheit der Welten und der Ebenen des Jenseits stehen großteils außerhalb der diesseitigen Zeitbezüge.

Beispiel: „Wahrlich, sie sehen ihn (den Jüngsten Tag) als fern, Wir jedoch sehen ihn als nah.“ (Sura Al-Ma’aridsch, 6-7).

Auch nicht-begrenzbare Zeiträume finden sich im Qur’an; dabei wird Nicht-Begrenzbares und Nicht-Begrenztes als Begrenztes dargestellt, sowohl in direkter Form als auch in Gegenbeispielen. Dies hat bei einem bewussten Leser oder Hörer bestimmte Auswirkungen:

Der Mensch wird mit sprachlichen Mitteln auf eine Ebene gelockt, wo der Verstand nichts mehr erklären kann.

Das Unsagbare wird gesagt. 

All dies belegt deutlich, wie der Schöpfer im Qur’an menschliche Sprache verwendet: dem Menschen also etwas mitteilt, wie Er (ta’ala) etwas Verborgenes, was eindeutig nicht aus dem Diesseits stammt, in einer verstehbaren, offenen Form des Diesseits mitteilt, in einer klaren, fehlerlosen Art und Weise. Dies vor allem nennt man als Zeichen der Nicht-Übertreffbarkeit [I’dschaz] des Qur’an.in allen Bereichen des Lebens Freiheiten gegeben, nämlich dort, wo das Allgemeinwohl der Umma nicht beeinträchtigt ist. Insofern ist der Mubah-Bereich ein Beweis für die Barmherzigkeit des Schöpfers den selbstständigen Menschen gegenüber, während die verpflichtenden Regeln für alle gelten, einfache wie hochgebildete Muslime, wodurch das Allgemeinwohl und die Gleichheit der Menschen vor dem Schöpfer betont wird. Im dritten Hauptteil werden die abstrakten Zielsetzungen der Schari’a (die „Maqasid“) behandelt. Dieser Bereich war in dieser Form vor Asch-Schatibi noch nicht betrachtet worden. In seiner ihm eigenen Art beleuchtet der Autor die Herangehensweise des Schöpfers, wie sie in den Regeln der Schari’a aufleuchtet, und verdeutlicht dies in überraschenden Beispielen in nie zuvor geschilderter Klarheit: Was notwendig ist zur Aufrechterhaltung des Din (Religion) und was nicht, worin „Handlung“ besteht und „Verantwortlichkeit“, wodurch sich „Verpflichtung“ und „Nicht-Verpflichtung“ ergibt, usw.

Auch hier ist auffällig, wie sehr sich Asch-Schatibi bemüht (und das mit Erfolg), dem Leser einen jeweiligen Aspekt aus verschiedenen Blickwinkeln zu zeigen: Aus jedem Blickwinkel ergeben sich natürlich unterschiedliche Ergebnisse, und die Kunst von Asch-Schatibi besteht darin, den Leser selbst erkennen zu lassen, dass und wie diese Ergebnisse zusammengehalten werden. Die Belege (Al-Adilla), durch die in der Pflichtenlehre (Fiqh) etwas bewirkt wird, sind das Thema im vierten Hauptteil; hier beschäftigt der Autor sich mit den sprachlichen Aspekten des Qur’an, und zeigt wiederum in ungewohnter Weise (ungewohnt auch dem damaligen Leser, der in Grammatik bewandert war), wie Sprache als solche in den Grundlagenwissenschaften bewertet wird: Ohne Bewertung der Sprache keine Ableitung von Belegen, ohne Belege keine Normen (Verpflichtung, Verbot, Wahlfreiheit und so weiter).

Der fünfte und letzte Teil der Muwafaqat beschäftigt sich endlich mit dem schwierigsten Bereich, der eigenständigen Rechtsfindung des ranghohen Gelehrten (Idschtihad). Gerade weil ohne diese besondere und schwierige Art der Bewertung und Auslegung der Quellen, ohne Verinnerlichung der gesamten Grundwissenschaften, kein praktikabler Weg des Islam denkbar ist, zeigt sich der geniale Stil von Asch-Schatibi: Jetzt erst, nachdem der Leser die besondere Sichtweise des Autors durch Wissenschaften, Quellen, Belege etc. mitverfolgt hat, kann er die Techniken des Mudschtahid (des eigenständig auslegenden Gelehrten, Richters und Muftis) nachvollziehen. Bis heute ist das Werk der Muwafaqat unerreicht und ein weithin noch kaum genutzter Schatz der islamischen Wissenschaftsliteratur und Geistesgeschichte.

In der nächsten Ausgabe stellen wir das „Bidajat Al-Mudschtahid“ von Ibn Ruschd vor.

 

- Veröffentlicht in der IZ (Islamische Zeitung) -

 

zurück zur Übersicht

Drucken