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03.03.2010: 
Die offenbarten Texte und die sie auslegenden Gelehrten im islamischen Denken

Überlegungen zur Rolle der Vernunft (1) von Abdurrahman Reidegeld, Wien


(iz). Auch wenn die offenbarten ­Texte (der Qur’an und indirekt auch die gesicherten Hadithe) nach der Überzeugung der Muslime nicht aus der Ebene des menschlichen Verstandes entstammten, waren sie doch ohne Auslegung nicht verstehbar oder lebbar. So waren sich schon die frühen Muslime in der Zeit der Propheten­gefährten (nach dem Tod des Gesandten Allahs) darüber einig, dass bei Unklarheiten der offenbarten Texte auch das Verstandesgemäße beachtet werden müsse. Andererseits gibt schon die Hadithliteratur den Gegenhinweis, wonach ein vernunftgebundenes Handeln, was der Mensch entwickelt und was der Regelung der Offenbarung eindeutig widerspricht, nicht beachtet werden kann.

Darum wurde in den ersten zwei Jahrhunderten nach der Hidschra unter Gelehrten, Denkern und Philosophen der Muslime hart diskutiert und argumentiert, ob und wann der Verstand im Zusammenhang mit dem von Allah gegebenen Regelwerk verbunden werden könne.

Es gab zwei entgegengesetzte Befürchtungen, die sich als Zankapfel erwiesen: Wenn man auf vernunftgerichtetes beziehungsweise vernunftgebundenes Handeln verzichtete, und sich nur und ausschließlich auf die Offenbarungstexte beschränkte, würden viele Lebenssituationen ohne Lösung verbleiben. Dadurch aber würde der Gesamtanspruch der islamischen Lebensweise (zu jeder Zeit, jeder Gesellschaft und für jeden Muslim passend zu sein) ad absurdum geführt.

Ebenfalls sprachen etliche wortwörtliche Prophetenaussagen ganz eindeutig von der Notwendigkeit, dem Verstand einen Platz einzuräumen, wie etwa in der Sahih-Überlieferung zur Entsendung von Mu’adh ibn Dschabal in den ­Jemen. Bei dieser Begebenheit fragte ihn der Prophet, wonach er als Richter und Statthalter entscheiden wolle, wenn er eben keine direkte Weisung aus dem Qur’an oder der prophetischen Sunna fände. Mu’adh antwortete: „Dann werde ich nach meinem Verstand (‘Aql) urteilen“, was der Prophet in dieser konkreten Überlieferung als gut bestätigte.

Wenn man sich hingegen in Zweifelsfällen hauptsächlich auf den rein menschlichen Verstand stützte, würde die offenbarte Lebensregel als Hauptweisung außer Kraft gesetzt: Der Mensch würde sich de facto von der Offenbarung als verbindlicher Form der Lebensgestaltung lösen, sein „eigener Regelgeber sein“ - was nach islamischer Auffassung für den Muslim unzulässig ist und das Band der Umma zerschneiden würde. Denn nur durch die Bindung an den Gesandten und an das, was er gebracht hat, wird eine Verbindung zwischen ­Allah, Gesandtem und allen Muslimen geknüpft. Die praktische Lösung dieses Problems wurde aber überschattet durch zwei Erscheinungen, die von den Offenbarungsaspekten unabhängig waren:

• Der Aufnahme antiker Texte (in Form von Übersetzungen).

• Gesellschaftlich-politische Veränderungen beziehungsweise Rahmenbedingungen, welche die muslimische Ur-Gemeinde völlig transformierten und neue Lösungswege erzwangen.

Offenbarung als Grundlage

Die Gelehrten des ersten und zweiten Jahrhunderts nach der Auswanderung des Propheten waren geprägt durch die (anfangs noch nicht starke) Auseinandersetzung zwischen den Hadith-Anhängern und den Vertretern der freien Mudschtahid-Auslegung.

Beide bezogen sich natürlich gleichermaßen auf die islamischen Ur-Quellen, den qur’anischen Text und die Texte der Hadithe, aber betrachteten sie aus verschiedenen Blickwinkeln heraus: ­Logische, notwendige Elemente konnten sich ja bereits aus der tradierten Form (Naql) ergeben; wenn sich zwei Überlieferungen äußerlich widersprachen, konnten sie nicht so stehenbleiben, da sonst beide Aussagen wertlos würden.

Aus dem Offenbarungstext ergab sich aber manchmal auch eine andere Problematik: Wenn sich mehrere qur’anische Aussagen logisch zu einem Ganzen ergaben, konnte, sollte oder musste diese logische Betrachtung angestellt werden? In diesen Fragen bestand für mehr als ein Jahrhundert keinerlei Einigkeit, und die Vielfalt der Denkschulen (Madhahib), die als Ergebnis dieser Diskussion entstanden, ist das noch heute bestehende Zeichen dafür.

Grundgegensätze

Besonders bewegte die muslimischen Denker der ersten zwei Jahrhunderte nach der Hidschra die Frage, was der Mensch mit seinem Verstand überhaupt ergründen und erfassen könne, und was davon eventuell im Gegensatz zu dem geoffenbarten Wissen stehe.

Diese Betrachtung führte auch zu ­einer Sonderbehandlung der Propheten­ge­fährten (arab. Sahaba): Da sie nicht nur aufgrund ihres Verstandes urteilten, ­sondern über Jahre hinweg vom Propheten selbst in seiner Denkweise ­erzogen wurden, gestanden ihnen bald alle Gelehrten eine interessante Rolle zu. Ihre Aussagen wurden denjenigen von Nicht-Sahaba vorgezogen, aber da sich die Sahaba in Fatawa (Gutachten zu Fiqh-Themen) auch widersprachen, wurden diese Aussagen andererseits nicht verpflichtend für die gesamte Umma (muslim. Gemeinschaft) nach ihnen.

Auch auf die ‘Aqida (Glaubenslehre) bezogene Fragen prägten die Haltung zum Verstand mit. Wenn es möglich und sogar lobenswert war, sich über die Erschaffung von Himmeln und Erde Gedanken zu machen, konnte auch nicht das Gegenargument fruchten, dass man nicht nachdenken dürfe über etwas, das man nicht ganz begreifen könne.

Die Erschaffung von Himmeln und Erde wird im Qur’an zwar grund­sätzlich beschrieben, ist aber mit dem menschlichen Verstand allein nicht zu fassen. Dennoch wird das Nachdenken hier als lobenswerte Haltung beschrieben (in der Sure Al ‘Imran).

Umgekehrt wurde spätestens seit der Entwicklung der Mu’tazila und ihrer ­Argumentation zu Dingen wie Jenseits, Existenz des Schaitan usw. deutlich, dass ein nur vom Verstand abhängiges Gottes- und Kosmosbild die Muslime weder verpflichten, noch den Verstand ohne Substanzverlust mit der Überlieferung verbinden konnte.

Die antike Philosophie-Tradition

Die Ideen des Philosophen Platon - insbesondere seine Ideenlehre und ihre Verkörperungen - waren in der altgriechischen Welt etwas Neues und blieben eine abstrakte Materie. Erst Aristoteles gab dieser Ideenleere eine klare Systematik (Logik, Syllogismus, Kategorienlehre) und übte dadurch weit über seine Zeit starken Einfluss auf alle Philosophen nach ihm aus. Auch die angegliederten Vorstellungen von Mathematik, Astronomie, Logik und Rhetorik usw. wurden in dieses Denksystem eingebunden. In der frühen nachchristlichen Epoche wurde dieses System durch Plotin (205-207) überliefert. Dank späterer Philosophen entstand daraus ein leicht verändertes System, in dem unter anderem die Vorstellung einer einzigen göttlichen Kraft alle Ideen und Wesen hervorbringt oder doch bestimmt, und das man „Neo-Platonismus“ nennt. Im Jahr 529 schloss Justinian die platonische Akademie in Athen. Die dortigen Philosophen flohen aus dem byzantinischen Herrschaftsgebiet nach Dschundeschapur (Persien), Harran (Syrien) und Ägypten. Hier blieb die spätantike philosophische Tradition eben solange erhalten, bis sie nach der muslimischen Eroberung ihrerseits Einfluss auf die islamischen Denker ausübte.

Schon in der Zeit der Eroberungen Ägyptens und Syriens waren die ersten Muslime mit Spuren der griechisch-römischen Antike in Kontakt gekommen. Zunächst in der Architektur, aber auch in vielen Umgangsformen und vor allem der byzantinischen - also spät-oströmischen - Verwaltung. Diese beließ man wohlweislich auch so, wie sie sich erhalten hatte, weil sie gut funktionierte - auch wenn man sie seitens der muslimischen Eroberer keineswegs durchschaute.

Eine neue Auffassung

In der Zeit der ‘Umaijaden wurden diese Traditionen weiterhin gepflegt, aber nicht mit den islamischen Traditionen verbunden oder verglichen, schon gar nicht adaptiert. Sie wurden stattdessen oft ignoriert. Das änderte sich durch den persönlichen Einsatz des ‘abbasidischen Khalifen Al-Ma’mun (813-833), der gemäß seiner eigenen Aussage durch einen Traum zur Sammlung griechischer und anderer Schriften bewegt wurde.

Mehr noch, er gründete 830 eine ­eigene Institution (das sogenannte „Bait al-Hikma“, das „Haus der Weisheit“), wo die bekanntesten Forscher und Übersetzer seiner Zeit versammelt und gut dafür bezahlt wurden, antike Handschriften ins Arabische zu übersetzen. Das so (wieder-)gewonnene, verstandesbezogene Wissen nannte man damals „Ilm Al-Awa’il“ (das Wissen der Frü­heren) oder auch einfach „Hikma“ (wörtlich „Weisheit“), meinte damit aber die Philosophie und die damit im Zusammenhang stehenden „griechischen“ ­Wissenschaften.

Entscheidend zur Wissensverbreitung - sowohl des „offenbarten“ Wissens als auch des „griechischen“ - war die Übernahme der Papierherstellung in der mittleren ‘Abbasidenzeit durch zentralasiatische Fachleute. So konnte Al-Ma’mun bereits über Papiermühlen und Buchbindereien verfügen. Hand in Hand ging damit der Beginn des Bibliothekswesens. Bald konnte auch in Spanien der ‘umaijadische Herrscher Al-Hakam II. (gest. 976) in seiner Palastbibliothek über 400.000 Bände nachweisen. Dabei handelte es sich vornehmlich um philosophische, astronomische und medizinische Texte in spätantiker Tradition (einige syrisch, meist jedoch mittelgriechisch), die in erheblichen Mengen erst im Osten, später aber auch bis in den islamischen Westen an- und weiterverkauft wurden.

Während die astronomischen und medizinischen Texte relativ eigenständig rezipiert und zum Islam parallel bestehend gesehen wurden, konfrontierten die philosophischen Ideen dieser Handschriften die damaligen muslimischen Gelehrten und Denker mit einer neuen Welt. Einer Vorstellung von Kosmos, in der nicht Offenbarung, sondern Prinzipien wie „Verstand“, „verständige Allseele“ und dergleichen die Hauptrolle spielten. Das Erbe der Aristoteliker und der Neoplatoniker war in die geistige Welt des Islam eingetreten.

 

- Veröffentlicht in der IZ (Islamische Zeitung) -

 

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